Sonntag, 5. April 2020
Tag für Tag
Hier ist noch mein Text, den ich für einen Schreibwettbewerb geschrieben habe. Da ich nicht in die engere Auswahl kam, veröffentliche ich ihn jetzt hier, denn ich mochte ihn. Das Thema war die Zahl -17.
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Sie steht vor dem Spiegel und schaut in das müde Gesicht, dass sich ihr bietet. Die Haare vom Schlaf ganz durcheinander. Augen und Mund von kleinen Fältchen umspielt. Der Stress der letzten Tage zeichnet sich als tiefe Schatten unter ihren Augen ab. Es ist ihr vierunddreißigster Geburtstag. Seit längerem mal wieder ein Samstag. Doch sie wird nicht feiern. Vielleicht für ein paar Stunden bei ihren Eltern vorbeischauen. Danach ein kurzes Treffen mit ihrer besten Freundin. Mal sehen was der Tag so bringt, der doch auch nicht anders ist als jeder Tag davor oder danach.
Sie schlurft in die Küche. Macht sich einen Kaffee. Seufzend geht sie zur Haustür und nimmt die Zeitung aus dem Briefkasten. Ein paar Briefe sind auch dabei, doch nichts Nennenswertes. So wie immer. Ein Blick aus dem Fenster. Sie beobachtet wie die Menschen draußen auf der Straße vor sich hinleben. Die meisten, wie sie, gefangen in ihrem Alltagstrott. Eine junge Mutter läuft die Straße entlang. Mit der einen Hand den Kinderwagen schiebend. In der anderen Hand das Handy. Der Blick ernst und angespannt.
Das leise Zischen der Kaffeemaschine holt sie aus ihren Gedanken. Mit Kaffee und Zeitung setzt sie sich an den Küchentisch. Überfliegt ein paar Artikel. Ein siebzehn jähriges Mädchen hat einen Preis für besondere Leistungen bekommen. Sie wäre gerne wieder siebzehn. Minus siebzehn Jahre und die Welt ist eine andere. In Erinnerungen schwelgend schlürft sie an ihrem Kaffee. Minus siebzehn Jahre Lebenszeit. So schnell vergangen ohne nennenswerte Ereignisse. Sie wäre gerne wieder siebzehn und unbeschwert. Mit den Gedanken in der Liebe und im Leben. Mit Träumen, die über jedermanns Vorstellung wuchsen. Was ihr siebzehn-jähriges Ich wohl über sie denken würde? Das Telefon klingelt. Ihre Eltern. Ob sie zum Mittag vorbeikommt. Sie bejaht. Ein weiteres Mal seufzend geht sie ins Bad, um sich fertig zu machen. Den Blick in den Spiegel vermeidet sie. Ihre Gedanken sind noch immer in einer anderen Zeit. Mit siebzehn hatte sie viel erlebt. Das Zurückdenken an diese Zeit lässt ein kribbeliges Gefühl in ihr wach werden. Vor ihrem inneren Auge läuft ein kleiner Film der vergangenen Jahre. Routiniert greift sie nach dem Kamm, wäscht sich das Gesicht, putzt sich die Zähne. Beinahe jedes Wochenende war sie unterwegs gewesen. Sogar durch Irland ist sie getrampt. Und jetzt? Vor ihrem Kleiderschrank stehend weiß sie nicht so recht was sie anziehen soll. Nach ein paar Griffen hält sie ein altes T-Shirt in der Hand. Weinrot mit Schnürungen. Die Farbe ist schon etwas ausgeblichen, aber sie zieht es trotzdem an. Sie erinnert sich, dass sie es mit ihrer besten Freundin im Urlaub in Italien gekauft hatte. Ein Freitag der dreizehnte. Es war reduziert gewesen und kostete statt dreißig nur noch dreizehn Euro. Ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen. Es war eine schöne Zeit. Sie nahm sich vor noch einmal dort hin zu fliegen. Ein wenig motivierter betrachtet sie sich erneut im Spiegel. Ihr Blick bleibt an dem T-Shirt hängen. Es ist über die Jahre ausgeblichen. Es ist irgendwie grau geworden - Italien. Vielleicht konnte sie dies schon bald tun. Sie ist sich sicher, sie muss mal wieder aus ihrem Trott ausbrechen. Und wenn es nur für ein paar Tage wäre. Minus siebzehn Jahre Lebenszeit. Und trotzdem noch viele weitere Jahre, um etwas Nennenswertes zu erreichen. Sie schnappt sich ihre Schlüssel und tritt aus der Haustür. Ein lauwarmer Wind umspielt ihr Gesicht. Mal sehen was der Tag so bringt.

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